Hakîm Sanâ'î

ZUR SCHREIBWEISE: Wir verwenden hier die Umschrift aus dem Persischen nach dem englischen Transkriptionssystem der Encyclopaedia of Islam, 2. Edition (EI2), jedoch in vereinfachter Form, da gewisse Buchstaben nicht im Html-Code des Internet darstellbar sind. Hakîm Sanâ’î wird in verschiedener Weise namentlich geführt. Hakîm ist ein oft verwendeter Beiname von Sanâ’î. Nach der türkischen Islam Ansiklopedisi (IA) wird Hekîm Senâ’î, in der deutschen Form (DMG) Haqîm Sanâ’î geschrieben. Die gängigen nichtwissenschaftlichen Schreibformen sind ohne Transkriptionszeichen: Hakim Sanai, Hakim Sana'i, Haqim Sanai, Hekim Senai.

 

Biographisches

„Ein glücklicher Mensch ist jener, der seinen Abdruck
von dieser Welt weggewischt hat..“
Hakîm Sanâ’î

Über Hakîm Abu’l-Majd Majdûd bin Adam al-Sanâ’î al-Ghaznavî, dem großen persichen Dichter, ist wenig bekannt, und das was nicht „verwischt“ worden ist, sind seine kurzen Anmerkungen in seinen Werken. Geboren wurde er voraussichtlich im Jahr 1072 in Ghazna in Afghanistan als Sohn eines Hofbeamten des Sultan Ibrahim (1059-99). In diesem Umfeld absolvierte er eine profunde dichterische Ausbildung und hatte eine Karriere als Hofpoet im Sinn. Um 1099 wandelte sich seine Geisteshaltung und er wandte sich vom höfischen Treiben dem geistlichem Streben zu. Er verließ Ghazna und ging nach Balch. Dort verfaßte er sein erstes Mathnavî (Zweizeilergedichte), das Kârnâma-yi Balkhi, bestehend aus 433 Doppelversen, die die Fürsten des Landes preisend wie auch satirisch behandelt. Einigen Quellen zufolge unternimmt er die Mekkapilgerfahrt und wird ein Schüler von Yûsuf-i Hamadânî.1
Historisch belegt ist aus dieser Zeit eine enge Freundschaft mit damals bekannten Schriftgelehrter und Prediger Muhammad bin Mansur, dem er sein zweites Mathnavî Sayr al-Ibad ilâ ‘l-Ma´ad - "Die Reise des Ergebenen zum Ort der Rückkehr” gewidmet hat. Darin veranschaulicht er mittels Allegorien in 800 Zeilen die Entwicklungsreise der Seele.2

In den Jahren 1112 bis 1126 reist Sanâ’î quer durch Horasan und arbeitet kontinuierlich an seinem großen Mathnavî-Epos Hadîqatu'l-Haqîqa ve Sharî'atu't-tarîqa, dass 10.000 Doppelverse umfaßt. Sanâ’î gewann an Bekanntheit und Sultan Bahramshah bietet ihm seine Schwester zur Frau, und möchte ihn ebenso zum „Bruder im Gesetz“ erheben. Doch Sanâ’î lehnt unter Berufung der Weltflucht dieses Angebot ab. Bahramshah erhält von ihm eine erste Rohform des Mathnavî, dass an die 5.000 Verse umfaßt. 1127 kehrt Sanâ`î nach Ghazna zurück, überarbeitet sein großes Mathnavî mehrmals und stirbt am 9.Juli 1131 während der Finalisierung dieses Werkes.3

Hakîm Sanâ’î war der erste Sufi der die dichterische Mathnavî-Form für Lehrgedichte verwendet hat. Die selbe Form wurde dann 100 Jahre später durch Jalâladdîn-i Rûmî als das Mathnavî bekannt. Es heißt, dass Husamaddîn Jalabî, ein enger Vertrauter Rûmîs, ihn eines Tages darum gebeten hatte, ein Lehrgedicht zu verfassen, damit die Schüler nicht immer nur die poetischen Werke Sanâ’îs und Attars zu lesen brauchten. Daraufhin soll Rûmî die ersten berühmten 18 Verse seines Mathnavî, auf einem Stück Papier geschrieben, aus seinem Turban gezogen haben. Diese Zeilen tragen den Titel: Das Lied der Rohrflöte. Rûmî liebte Sanâ’îs Werk, und zitierte ihn immer wieder. Schon einer seiner ersten Sufimeister Burhanaddîn Muhaqqiq lehrte ihn Hakîm Sanâ’îs „Hadîqatü'l-Haqîqa“, und so blieb dieses Werk auch ein Segen für alle die Rûmîs Spuren folgten. Sanâ’î zu Ehren verfasste Rûmî folgendes Gedicht, das uns in einer Übersetzung von Annemarie Schimmel vorliegt:


„Es lebt“, sprach man, „Meister Sanâ’î nicht mehr!“
Der Tod eines solchen Mannes wiegt schwer:
Er war keine Spreu, die der Wind leicht entführt,
ein Wasser nicht, das in der Kälte gefriert;
er war kein Kamm, der im Haare zerbricht;
ein Korn, das die Erde zerdrückt, war er nicht...
"

„Attar ward der Geist, Sanâ`î seine Augen,
und wir kamen dernach.“

Rûmî, in: Aflakî's Manâqibu’l-ârifîn

„Ich ließ ab vom Kochen, halb gegaren,
die gesamte Darlegung vernimmst du vom
Weisen aus Ghazna.“

Rûmî, Mathnavî -i ma’navî

 

Hakîm Sanâ’î weist als brillianter Sufidichter den Leser unbeirrbar auf die eigenen inneren Fähigkeiten hin, die in reiner Form als Spiegelung Göttlichen Wirkens zur Vervollkommnung führen. Sein gerades Wort bezüglich der tiefen psychologischen Probleme des Menschen sind seit rund 800 Jahren gültig und weiterhin wirkungsvoll. Der große Pir Jalâladdîn-i Rûmî zitiert ihn im 12.Jh. ebenso wie Gurdjieff im 20.Jh.

Die Hadîqa nimmt in lyrische Vollendung die alte persiche Erzähltradition wieder auf und führt durch eine Vielzahl an Kurzgeschichten und Parabeln in die buntschillernde Farbenwelt der Bedeutungsebenen der islamischen Weltsicht. Die Hadîqa erweist sich in in ihrer philosophischen Weite, die in hoher Dichtkunst eingewoben ist, als eines der bedeutensten Werke der Weltliteratur.

 

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1 R.Gramlich, Die schiitischen Derwischorden Persiens , Wiesbaden 1965, p 8;
Köprülü Fuad, Türk edebiyati’nda ilk mutasavviflar, Ankara 1976, p 67, p 157;
2 D.Pendlebury,The way of the seeker, in “Four Sufi Classics” London 1980,
p 161-183
3 Das Sterbedatum wird verschieden angegeben, hier: Islam Ansiklopedisi, Istanbul 1940-96, s.v."Senâ'î"

 

 

 

Der Garten der Wahrheit
und das Gesetz des Weges

Auszüge
aus dem ersten Buch der
Hadîqatu'l-haqîqa ve sharî'atu't-tarîqa


Oh, Der Du das Innere hegst und das Äußere pflegst,
Der Du Scharfsinn wie auch Stumpfsinn verteilst,
Schöpfer und Erhalter von Erde und All,
Beschützer und Beistand von Bewohner und Wohnstatt.
Bewohner und Wohnstatt, alles ist Dein Werk,
Erde und Kosmos, alles ist unter Deinem Befehl,
Feuer und Wind, Wasser und fester Grund,
alle unterstehen der Macht Deiner Weisung.

Die sehende Seele
erkennt die Torheit andere
außer Gott zu loben.

Das Selbst ist ein Diener in Seinem Reiterzug;
Vernunft ein neuer Knabe in Seiner Schule.
Was ist die Vernunft in diesem Gasthaus,
außer eine gekritzelte Krümmung
in Gottes Handschrift.

Hat Er sich nicht selbst gezeigt,
wie sollten wir Ihn sonst erkannt haben?
Wenn Er uns nicht den Weg zeigt,
wie können wir Ihn erkennen?
Wir versuchten unseren Weg
zu Ihm zu erklären, es ging nicht:
aber in dem Moment, wo wir aufgaben,
verblieb kein Hindernis.

Er machte Sich uns aus Güte selbst bekannt:
wie sonst sollten wir Ihn erkannt haben?
Vernunft brachte uns bis zur Tür,
aber es war Seine Gegenwart,
die uns hineinließ.

Aber wie willst du Ihn jemals erkennen,
solange du unfähig bist, dich selbst zu erkennen?

Einmal eins ist eins,
nicht mehr, nicht weniger;
Fehler beginnt mi Dualität;
die Einheit kennt keine Fehler.

Der Ort selbst hat keinen Ort;
wie könnte da für den Schöpfer des Ortes ein Ort sein,
Himmel für den Erschaffer des Himmels?

Warum, sag mir, wenn das was du suchst,
nicht an irgendeinen Ort existiert,
du trotzdem zu Fuß dorthin zu reisen beabsichtigst?
Die Straße, auf die dein Selbst reisen muß,
besteht darin, dass du den Spiegel
deines Herzens polierst.

Der reine Mensch vereint zwei in einem,
der Liebende vereint drei in einem.

Aufstieg, sagt Mansur,
hat nichts mit Märchen zu tun.
Verlasse deine niederen Leidenschaften
und komm zu mir.
Du hast zu realisieren,
dass es Seine Führung ist,
die dich auf dem Pfad hält,
und nicht deine eigene Stärke.

Schweigen ist Lobpreisung
und hat nichts mit Sprache zu tun;
deine Schnatterei wird dir einzig
Schaden und Sorgen bringen -
habe nichts damit zu schaffen!

Glaube und Unglaube -
beide haben ihren Ursprung
in deinem Heuchlerherz;
der Weg ist nur darum lang,
weil du es verzögerst,
mit ihm zu beginnen:
ein einziger Schritt
würde dich zu Ihm bringen:
werde ein Sklave,
und du wirst ein König sein.

Dein Intellekt ist nur ein Eintopf
aus Vermutungen und Gedanken,
die über das Antlitz der Erde hinken,
wo immer sie sind, ist Er nicht;
sie sind angefüllt in Seiner Schöpfung.

Der Pfad besteht weder in Worten noch in Taten:
einzig Trostlosigkeit kann davon kommen,
und niemals ein andauerndes Gebäude.

Wenn Er dir Gift verabreicht,
erachte es als Honig;
und wenn Er dir Ärger zeigt,
betrachte es als Barmherzigkeit.

Sei zufrieden mit deinem Los;
aber wenn du irgendwelche Beanstandungen hast,
geh und bring sie zum Richter
und erlange Genugtuung von ihm.
Das ist die Art, wie des Narren Verstand arbeitet.

Demut kleidet dich, Zorn nicht:
ein nackter Mensch,
außer sich in einem Bienenstock,
ist fehl am Platz.

Du bist was du bist,
daraus folgend
deine Lieben und Gehäßigkeiten;
du bist, was du bist:
folglich Glauben und Unglauben.


Hoffnung und Furcht
vertreiben das Glück vor deiner Tür;
laß ab von dir,
und sie werden nicht mehr sein.

An Seiner Tür,
was ist der Unterschied
zwischen Muslim und Christ,
tugendhaft und schuldig?
An Seiner Tür
sind alle Suchende
und Er der Gesuchte.