Die Anfänge

 Im Zentrum der Unterweisungen des Propheten an die nahen Freunde standen die gemeinsamen Gottesanrufungen (zikr), Stundengebete (vitr) und Kontemplationen (tefekkür). Die Erklärungen der Offenbarungen, die Antworten Gottes auf persönliche Fragen der Suchenden, die durch den Propheten gegeben wurden und seine heilige Präsenz ließen viele Menschen in seinem Umkreis ein schnelle geistige Reifung durchlaufen, und sie wurden selbst zu Quellen göttlicher Weisheit und gelebter Gottesschau.  Da der Islam die Besonderheit aufweist, eine intensive Gottesannäherung unter herkömmlichen Menschen zu ermöglichen, ist es generell auch nicht zur Entfernung von Familie und Beruf zugunsten spiritueller Praxis gekommen. Diejenigen, die sich jedoch keiner familiärer Verpflichtung gegenüber sahen, konnten anderen durch ihre vermehrte Zeit an innerer Arbeit förderlich sein. So waren die Moscheen der Frühzeit auch Orte des Austausches an Gotteserfahrung. Nach dem Ableben des Gesandten wurden den Aussprüchen und Gesprächsinhalten des Propheten weiterhin viel Aufmerksamkeit gewidmet, und die Sicht der Einheit zwischen Gott und den Geschöpfen, die als eine Kommunikation anhand der Erfahrungen des Gesandten erfasst wurde, blieb als der Schatz neben dem Kur'ân in den Herzen der Menschen. Die Hoffnung auf das Erfahren der unteilbaren Einheit zwischen der Seele und ihrem Erschaffer wurde zum Grundglauben im Islam und so war auch die Einsetzung eines Vermittlers zwischen Gott und den Menschen nach dem Propheten nicht mehr von nöten. Jedoch sind die Gottessucher, die sich vermehrt dem Inhalt der inneren Erlebnisse zugewandt hatten und einer Rechtleitung empfangen haben, gut beratende Freunde und ein Zeichen für die intime Beziehung zwischen Gott und Mensch.

Erst im Enstehen der instutionellen Staatsformen, die das Religionsrecht (seri'at) ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gestellt hatten, ging ein Autoritätswechsel von den Gotteskennern zu den Rechtsgelehrten und Regenten vor. Es war und ist ein Verlust in jeglicher Gesellschaft die spirituell Reichen mit den Intellktuellen und materiell Reichen in ihrer Wichtigkeit und in ihrem Vorbild zu verwechseln. Dass das Befolgen der Gebote in ihrer allgemeingültigen Form als das einzige Kriterium der Definition von Muslimsein in den Köpfen vieler Menschen sich eingenistet hatte, und eine übertriebene Darstellung der Frömmigkeit zu rein äußerlichen Form der Religion geführt hatte, wurde den Menschen mit Gewissensschau als bald bewußt. Der Versuch Gott ohne den Kontext Seiner Barmherzigkeit und unendlichen Größe, zu einem Richter von jeglicher Verfehlung zu machen, ist das enge Bild eines Menschen, der sich noch nie in die endlose Tiefe seiner Seele verloren hat.

Nun waren aber die Menschen der Innenschau diejenigen, die die Zeichen Gottes in den Horizonten und in sich selbst erkannt hatten, und durch das Licht der Intuition die Wahrheiten des Kur'ân ohne Analogieschluß und indirketen Wissenschaften erfasst hatten. Ihre Worte wurden zu Botschaften höherer Bedeutung und nur Menschen mit niederer Gesinnung und Herzen voller Neid und stetem Zweifeln vermochten den Wohlklang und den Balsam dieser Liebenden nicht erkennen. Doch selbst die Rechstschulengründer kamen zu ihren Gesprächen und lauschten und gingen gestärkt daraus hervor. Abu Hanefi, Ibn Hanbal, Schafî und andere lernten von diesen Gottkennern. Doch ist der Wert einer Unterweisung vorerst ein persönlicher Nutzen und dient der eigenen Klärung, und allzu schnell eilt man um andere zu unterrichten. Weil die Liebe immer gibt und niemals fragt, wer ihrer würdig ist, waren es auch nicht die Eitlen und Eingebildeten, die mit vollen Taschen aus dem Kreis der Sufis gingen, sondern es waren ihre Namen, die sie mitnahmen und selten der Inhalt der Gespräche. Den Namen der Gottesfreunde hefteten sie an den ihren und ließen immerzu ihren eigenen Namen vorausgehen. Der Derwisch aber erkennt Gott als den Vorausgehenden und als den alleinigen Erben, darum fällt es ihm leichter das Wenige, was er besitzt zu teilen und ohne Lohn anderen zu Diensten zu sein.

Obwohl die Methoden der Wandlung in ihren Grundformen vom Propheten selbst gegeben wurden und die weiteren Ausformungen auch verschiedene Gestalt - trotz gleichem Inhaltes - annehmen konnten, waren es die Kurzsichtigen, und unter ihnen viele Hanbaliten Brüder, die den Sufismus als unerlaubte Neuerung (bida') betrachtet hatten, und in der Heimat des Propheten den Weg der Gotteserkenntnis rar werden ließen. Die Wirkzentren der sufischen Bewegung wurden sodann Basra und Bagdad im Irak, Damaskus und Nischabur, dernach in Horasan Merv, Samarkand und Buchara, um dann vor den Mongolen rettend sich in Zentralanatolien, Nordafrika und Spanien über Jahrhunderte zu etablieren.

Die Frommen von Basra und die Bagdader Sufikreise zur Zeit der Abbâsiden-Kalife im ersten und zweiten islamischen Jahrhundert zeigten große Gewichtung auf der Seeelenprüfung, die muhasaba, die in dieser Gewissenschau jegliche negative Regung der Triebseele auszumerzen versuchten. Die Pietät war vor allem auf der Gottesfurcht beruhend und die Sucher zogen sich oft in die umgebenden Wüstengebiete zurück um strenges Fasten, Gottvertrauen und Kontemplation auf die Eigenschaften Gottes zu praktiziern. Ebû Hâşim Sûfi, Hasan el-Basrî (m.728), Bişr ibn el-Hâris el-Hâfî (m. ca 820), Ibrâhîm ibn Edhem (m.777) und Fuzayl ibn Iyâz (m.803) gehören zu den führenden Meistern auf dem Pfad dieser Zeit. Derwischkonvente, als hanâk und zaviye benannt, wurden einerseits als Lehr- und Gebetsstätten wie auch als Herbergen für umherziehende Wahrheitsucher errichtet.

Es folgt Mitte des siebten Jahrhunderts Râbi'a el-Adeviya (m.801), die die Gottesliebe als die alles erleuchtende Sonne ihrer Seele erblickt hatte und ein großes Feuer im Himmel und kühlendes Wasser in die Hölle bringen wollte, damit diese beiden Zustände aufhören sollten getrennt zu sein und die Menschen nur Gott um Seinetwillen anrufen mögen und nicht aus Angst vor der Hölle oder um Einlass im Himmel. Sie ist die berühmteste Sufiheilige und die Gottesliebe, aşk, wurde durch sie beinahe zu einem neuen Gottesnamen.

Es ist das beginnende achte Jahrhundert in dem es zu einer rapiden Ausbreitung der Sufik im gesamten Orient kam: Zunûn el-Mısrî (m. 860) in Ägypten, Râbi'a in Basra, Şakîk el-Belhî (m.810) im Norden Horasans, Ebû Süleymân el-Dârânî (m.810) in Syrien, el-Haris el-Muhâsibî (m.830) in Bagdad, Yahyâ ibn Muâ'z el-Râzî (m.872) in Zentralpersien und Bêyazîd Bestâmî (m.875) in Horasan sind die Lichter dieser Zeit. Wie unterschiedlich der Lebensweg dieser Mystiker war und unter welchen Umständen sie ihre Bestimmung fanden zeigt auch wie verschieden die Wege zu Gott innerhalb des Sufismus sind.

Fortsetzung folgt